6 Bericht und Fotos

Fotos





















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Der hier vorliegende Text gibt – ungefiltert und ungeordnet – Gedanken wieder, die während des Gehens auf den letzten Kilometern vor dem Ziel entstanden und mit dem Diktiergerät aufgezeichnet worden sind. Er dokumentiert auch den Zustand der Erschöpfung und des langsam einsetzenden Wahnsinns,-):

12 Uhr 38. Wir haben Billig hinter uns gelassen, Euskirchen schon lange. Die letzte Stunde ist angebrochen, wir müssen nur noch über den Berg. Buchstäblich. Über den bewaldeten Berg von Billig, den "Billiger Wald"; und dann müßte auch schon Wachendorf zu sehen sein. Die ersten machen schlapp, so daß sie den Rest mit dem Auto fahren müssen, haben sich bis hierhin schon eisern durchgekämpft. Aber es hilft nichts, Gesundheit geht vor und der olympische Sportsgeist ist dann auch irgendwann Fehl am Platze. Ich selbst hab den guten Rat, den ich mir selbst gegeben habe – nämlich: beim Rasten dehnen und nicht hinsetzen – NICHT befolgt und deswegen geht es mir auch schlecht. Es tut weh! Man kann es nicht anders sagen. Deswegen gehe ich wie ein Greis den Berg hoch. Es hat auch angefangen zu regnen, was sehr schön ist, das kühlt ein bisschen und das macht das Gefühl noch heroischer. In den Ohren dröhnt von Ferne, wenigstens in der Vorstellung, die Musik von »Rocky«. Man fühlt sich trotz der Schmerzen gut. Nicht trotzdem: deswegen. Komischerweise ist es hier … doch, man hört noch was… ich wollte schon sagen, es ist ruhig, aber das stimmt nicht. Obwohl es kein Vieh zu sehen gibt auf der Weide. Bei der Fahrradtour zuletzt gab's hier neugierige Kühe, die zum Zaun kamen, um einen zu beschnuppern. Aber jetzt sind die Weiden menschenleer bzw. tierleer. Entweder sind die alle in der Mittagspause, oder es ist irgendwas im Busch … Tja, Tsunami oder irgend sowas … Nee, die Vögel zwitschern ja noch und sind noch da; die hauen ja zuerst ab, wenn Unheil naht. Ja und die Tatsache, daß ich hier nur Blech rede, ist auch ein Hinweis darauf, das alle Muskeln und auch das Gehirn übersäuert sind, das gehört wahrscheinlich dazu.

Ich bin gespannt, wie viele es nun wirklich noch machen bis zur Kapelle. Die letzten 4 bis 5 Kilometer scheinen die härtesten zu sein. Aber wenn wir durch den Wald sind, müssten wir theoretisch schon die Kapelle sehen, am anderen Hang gegenüber gelegen. So, daß man nur noch durchs Tal, also durch Wachendorf durch muss. Und dann den letzten Abstieg meistert. Eben ist auch der Bauer vorbeigefahren, der Bauherr und Bauer, Herr Scheidtweiler. Auf dem Weg zur Krankengymnastik. Sagt er jedenfalls. Vielleicht wollte er auch nur mal nach dem Rechten sehen. Er hat sich schon gedacht, daß wir die Bekloppten sind, die aus Köln hier durch die Voreifel latschen.

Vor mir der unermüdliche Kim, der eben mal kurz ganz locker-flockig einen Sprint eingelegt hat, um mal etwas weiter nach vorne zu kommen; steht hier im Wald und zeichnet wieder irgendwas. Eine von seinen grandiosen Skizzen. Unglaublich. Mich hat er auch gezeichnet – als Cowboy, von hinten. Dünne, spirrlige O-Beinchen, links und rechts ne Wasserflasche wie Colts und natürlich dasTrekking-Ding aufm Kopf als Cowboyhut. Besser kann Lucky Luke in der Eifel nicht aussehen. Ich glaube, daß in Kim eine unendliche Kraft steckt. Er ist ja sehr unauffällig und läuft leise und diskret mit. Aber wenn man sich ihn mal ansieht, er strotzt vor Kraft und Energie. Wahnsinn! Ich glaub, der könnte auch noch zurücklaufen. Ich schlag´s ihm mal vor.

Hier im Wald riecht es natürlich wieder ganz anders, so bisschen dumpf und feucht, aber auch frisch nach Minze oder Eukalyptus oder Tannengrün … sowas in der Art. Da hängt ein Vogelhäuschen … sehr seltsam; ein Vogelhäuschen im Wald, als ob die hier nix zum Wohnen hätten. Und da steht auch ne Nummer drauf. 43, Hausnummer 43. Im Billiger Wald haben die Vögel Hausnummern. Vielleicht kriegen die auch Post – Luftpost natürlich. Was mir jetzt verdächtig vorkommt ist, daß Kim vorne verschwunden ist. Vielleicht bin ich einfach zu langsam. Aber auch hinter mir sehe ich keinen mehr. Da müsste jetzt eigentlich die Nachhut kommen. Die Lahmen, die ganz Lahmen und ganz Gebrechlichen. Auch die sind nicht da. Heißt: ich bin vielleicht auf dem falschen Weg. So wie damals auf dem Fahrrad, wo ich eine Stunde gebraucht habe, hier wieder rauszukommen. Sch...!

Ah, Gott sei Dank, Stimmen! Der Professore nähert sich, unverkennbar an Gang und Statur, umgeben von Rochus, dem Vitamin-Schweizer, und zwei Studentinnen, wenn ich das richtig sehe. Mein Blick, unscharf und verschwommen, nur schemenhaft sehe ich die Gestalten sich nähern, aber sie kommen näher, es ist keine Fata Morgana; die es, glaube ich, auch gar nicht gibt im Wald. Aber vielleicht bin ich auch gar nicht im Wald, sondern in der Wüste, der ganze Wald ist eine Fata Morgana. Kann alles sein.

Jetzt: die Kapelle im Blick, Schätzungsweise nur noch eine halbe Stunde Fußmarsch, aber die Euphorie wird sofort gedämpft von der Aussicht, das Stück von der (was heißt Stück? – 5km!) von der Kapelle nach Satzvey zum Abendessen laufen zu müssen anstatt gefahren zu werden. Damit müssen wir jetzt umgehen. Das Wetter ist einigermaßen stabil, bedeckter Himmel, die Sonne hat nur gerade kurz ihr Gesicht gezeigt und so ein klein wenig das Hemd angefackelt. Wir sind froh, daß sie wieder hinter den Wolken verschwunden ist, der Regen hat auch aufgehört. Man hört jetzt nur noch einen seichten Wind und das Rascheln der adidas-Regenjacke neben mir. Die Schafe beäugen uns misstrauisch, geben aber keinen Ton von sich. Das sind »die stummen Schafe von Mechernich«. Oder wie heißt das hier? Wachendorf? Eben haben wir die Phase durchlaufen, wo man sich mit völlig, völlig hirnlosem Geschwätz gegenseitig über Wasser hält und es dauert auch nicht lange, dann werden die ersten Herrenwitze ausgepackt. Die meistens fangen an mit: "Herr Doktor…", oder "Kommt ein Mann zum Arzt …". Ja so ist das, aber so kriegt man auch locker eine halbe Stunde rum.

Hier folgt die Begegnung mit einem hochbetagten einheimischen Wünschelrutengänger, der vor seinem Haus sitzt und mir ein Gespräch abringt; Mitschnitt siehe unten.

So: Kontaktaufnahme mit den Eingeborenen – aber interessant. Ja, die anderen werden nun eine Vermisstenanzeige aufgeben … Aua! Das hat wehgetan. Stehenbleiben ist nicht gut. Ich habe soeben Wachendorf betreten. Der Einheimische saß vor einer Art Aussiedlerhof und hat mich, glaub ich, weder verstanden noch gesehen. Die Augen waren schon so milchig. Aber es ist auch gut, mal Kontakt mit der Aussenwelt … Gut, mal schaun. Endspurt! Die letzten 20 Minuten, halbe Stunde……

Nee, geht nicht, muss noch eine Rast einlegen, Dehnübungen machen. Hier geht nix mehr, Blockade ist angesagt! Geh-Blockade! Das ist wie Schreib-Blockade, nur in den Beinen!

Ich glaube, die Dehnübungen haben geholfen. Aber während ich mich gegen eine Häuserwand, eine verklinkerte Häuserwand, gestützt habe, um die Waden zu dehnen und einem großen Ausfallschritt nach hinten – sah wahrscheinlich aus, als wollte ich das Haus umwerfen –, kam meine Nase gefährlich nah an meine Achseln dran und das ist schon erstaunlich, was da so geruchsmäßig alles stattfindet … nicht gut. Das ist gar nicht gut. Tja, jetzt hab ich hier die Kapelle aus den Augen verloren, hab keinen Stadtplan, also Ortsplan und auch sonst keinen Plan. Ich hoffe ich komme jetzt nicht da am Katzenstein raus, wovon der Greis eben sprach. Ach ja gut, wenn, ist auch nicht schlimm. Ist dann halt ne Katzenstein-Pilgerung ... Ah, dahinten ist Leben …

Verdammt, das ist noch gar nicht Wachendorf: es ist »Antweiler«. Ok, mal schaun! Irgendwo muss auch Wachendorf sein: Ich finde Dich, Wachendorf! Egal, was passiert. Und wenn es das letzte ist, was … Erstaunlich, wie wenig Menschen sich hier blicken lassen. Halb zwei … hm, vielleicht so eine Art Siesta? Doch, da hört man so etwas wie eine Säge, da hinten fährt jemand auf dem Fahrrad – es gibt Leben. Antweiler lebt! Eben, im Vorbeigehen, kamen Sprachfetzen durch eine Hecke. Dann so ein Hochziehen von Rotze und ein Schnippen, dann flog ein Kronenkorken über die Hecke und landete scheppernd auf dem Asphalt der Dorfstrasse. Atmosphärischer und spannungsgeladener kann kein Hörspiel sein. All das passiert JETZT, gerade hier in Antweiler. Da, ein Auto! Spuren von Zivilisation. Mit einem Menschen drin. Auf dem Kennzeichen steht EU, ich weiß nicht, ob das für Europäische Union steht, oder den griechischen Ausdruck, das griechische Wort für … ich glaube, das ist so ein »Heißa« oder ein »Juchhe«. Vielleicht ein Zeichen, vielleicht ein letztes aufmunterndes Zeichen der Götter, das sagen will: Du schaffst es! Du schaffst es! Du musst es nur wollen!

Gruß über die Straße: »GUTEN TAG!« … Guten Tag versteht man hier nicht … keine Reaktion! Nur verwirrtes, stoisches Glotzen auf den Fremdling; der sich mit zwei halben Wasserflaschen in der Hand und umgebundener Regenjacke hinkend, schleichend und humpelnd durchs Dorf schleppt. Wie ein angeschossener Cowboy. Auch das wird Rätsel aufgeben. Ich nehme an, daß in der nächsten Bürgerversammlung das Tagesordnungspunkt Nummer Eins sein wir, in der Rubrik »Was gibt es Neues aus dem letzten Jahr in Antweiler?«.

So: eine Kreuzung. Kreuzungen sind nicht gut, wenn man sich nicht auskennt. Mal gucken: die eine Straße heißt »Graf-Schall-Straße« und die andere heißt "Kreuzweingartenstr." Ich setze mich jetzt hierhin und warte, bis ein Einheimischer kommt…. Nein, setzen ist nicht gut, ich gehe jetzt im Kreis um die Bank, bis ein Einheimischer kommt. Dehnübungen mache ich hier auf keinen Fall, sonst werde ich als Vandale verhaftet, der versucht, die Bank kaputt zu machen. Auch der Strommast eignet sich nicht wirklich fürs Gegenstützen, sonst werde ich höchstwahrscheinlich beschuldigt, das örtliche Stromnetz lahmlegen zu wollen. Man weiß nie, wahrscheinlich gibt's hier noch das Schnellgericht und ich komm nicht mehr nach Hause und ich sterbe, ohne den Katzenstein gesehen zu haben. Oder der Katzenstein ist eine Hinrichtungsstätte. Tod auf dem Katzenstein durch Enthauptung, oder Vierteilen. Auffallend ist das aufgeregte Zwitschern der Vögel auf den Stromleitungen… ich nehme an, es hat sich herumgesprochen, daß ich da bin. Bin gespannt, was als nächstes passiert. Ah, ein Ladengeschäft: »Frischmarkt Krupp«. Da geh ich jetzt rein.

Zu! Klar, ist ja auch noch keine 16 Uhr. Sehr interessant, die Auslage: Getöpfertes, Gebatiktes und an der Scheibe … wie heißen diese Plakate? … hängen die Sonderangebotsbeilagen. Wahrscheinlich noch in D-Mark. Es gibt »Kaba« und »Schinkenhäger« und »Echt Stonsdorfer«. Ich glaub, das gibt's seit 1978 eigentlich nicht mehr. Ist auch schon leicht verblichen diese Reklame. Vielleicht habe ich auch die falsche Abzweigung genommen und befinde mich in einer Zeitschleife, bin zurückkatapultiert in die 70er Jahre, anhand der Autos kann man das jedenfalls nicht feststellen und mit Treckern kenne ich mich auch nicht so gut aus. Da vorne eine Ruine, bzw. ein zerbombtes Haus aus dem zweiten Weltkrieg; zerbombt, die eine Hälfte. Die andere Hälfte ist noch einigermaßen intakt. Das Haus scheint auch bewohnt, aber da geh ich jetzt nicht hin. Ich versuchs auf gut Glück. Da vorne ist eine Hauptstrasse , das ist ein gutes Zeichen. Hier ein VW … mmhh … ich nehm mal an, ein Jetta oder sowas. Aus den frühen Tagen, mit verrosteten Felgen, also eigentlich gar keine Felgen. Verrosteten Wagenteilen und nem Auspuffrohr, das selbst für ein Ofenrohr als dick gelten würde. Marke Eigenbau, garantiert.

Sicherlich wird meine Ankunft gleich, in unwahrscheinlichen zwanzig Minuten, frenetisch gefeiert als »Wunder von Wachendorf«. Endlich, denn zu jeder Kapelle gehört selbstverständlich ein Wunder, damit eine Seligsprechung, vielleicht auch eine Heiligsprechung erfolgen kann. Das wäre schön, dann wäre mein Martyrium auch zu etwas nutze. Hier eine unabhängige, längst verlassene Tankstelle mit himmelblauer verblassten Schrift, die sicherlich mal tiefblau war. Ein Schild, das quietschend sich im Winde wiegt. Gleich kommt so ein kugelförmiges, vertrocknetes Gestrüpp angerollt, das der Wind vor sich her treibt wie im Western. Und dann werde ich auch schon die ersten Geier auf Laternenmasten sitzen sehen, die mir hämisch und siegesgewiss zunicken und sich sagen: »Dich kriegen wir heute auch noch, Freundchen, wart mal ab! Bis zur Kapelle lassen wir Dich noch gehen, aber dann …«

Der einzige, der mir jetzt helfen kann, ist Bruder Klaus. Ich muss also, in der Kapelle angekommen, flehend meine Hände zum Gebet falten, auf die Knie stürzen und Bruder Klaus als meinen Schutzpatron anflehen, um mich sicher nach Hause in die Arme meiner Kinder zu bringen. Obwohl, jemand der seine 10 Kinder und seine Frau sitzen lässt, ist glaub ich kein guter Schutzpatron.

Was mich jetzt wundert – ich bin im Feld – daß die Kapelle verschwunden ist. Eben stand sie noch da oben. Jetzt ist sie einfach weg. Wegretuschiert in Photoshop. Ach nein … ich sehe sie wieder, da ist sie. Gut! In der Zwischenzeit bin ich natürlich ausgemergelt, ausgehungert und ausgetrocknet. In meiner Wasserflasche nur noch das Schwitzwasser, das sich bildet bei großer Hitze. Da habe ich in den Rillen einen letzten Rest Frubiase entdeckt, vielleicht die allerletzte Chance zu überleben. Ich muss die Flasche aufreißen und mit der Zunge die Krümelchen aus den Rillen lutschen. Ich weiß jetzt auch, warum die Kapelle kurzzeitig verschwunden war, es war der falsche Wald. Weil ich noch immer nicht im richtigen Ort war. Wachendorf liegt also VOR mir. Da ... da ist Wachendorf, das muss es sein. Zumindest hoffe ich es. Vielleicht aber ist es Katzenstein, vielleicht heißt der Ort Katzenstein. Vielleicht ist Katzenstein kein Stein, sondern ein Dorf, daß sich um die Burg des Freiherrn von Katzenstein irgendwann im 15. Jahrhundert angesiedelt hat. Aber wo ist die Burg? Keine Burg weit und breit. Also ist es vielleicht doch Wachendorf. Hoffnung flackert auf.

13.55 Uhr, ich liege immer noch vor Wachendorf, also bildlich gesprochen. In 5 Minuten müsste ich laut Zeitplan an der Kapelle sein, daß ist utopisch, aber der Weg ist ja das Ziel. Es ist der Wind, der mich hindert, schneller zu gehen. Der Wind, der egal aus welcher Richtung er kommt, sich immer anfühlt wie Gegenwind. Das ist das phänomenale an der Eifel: man hat in jeder Richtung Gegenwind. Ich sehe Dixie-Klos, und es kann nur einen Grund geben, hier Dixie-Klos hinzustellen: das ist für die bescheuerten Pilger. Architektenpilger!
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Hier besagtes Gespräch, das sich im Vorbeigehen mit einem Anwohner ergab und das zufällig aufgezeichnet wurde, weil das Diktiergerät noch an war. Der Mann war halbblind, fast taub und bediente sich einer mir nur ansatzweise bekannten Sprache, so daß eine Konversation nur mühsam stattfinden konnte – mühsam, aber amüsant.

Leider gibt es kein Foto von der Situation. Aber wenn man sich Herbert Knebel vorstellt, kommt es ihm ziemlich nahe.



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